Hanns-Eberhard Schleyer im Exklusiv-Interview über die Bedeutung des Handwerks wie auch den RAF-Terror vor 40 Jahren."Die Politik muss mehr auf die Bürger hören!"
Koblenz/Berlin. Vor 40 Jahren wurde Hanns Martin Schleyer nach sechswöchiger Entführung durch RAF-Terroristen ermordet. Es war der Höhepunkt im sogenannten „Deutschen Herbst“ und hinterließ tiefe gesellschaftspolitische, aber auch persönliche Spuren. Sohn Hanns-Eberhard Schleyer, damals 33 Jahre alt, übernahm ab 1978 wichtige politische Funktionen und beschreibt diese Phase in der Nachbetrachtung auch als „Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem politisch motivierten Terror. Dazu gehörte die Diskussion mit Meinungsbildnern und RAF-Sympathisanten, aber auch der Wille, etwas für die Aufrechterhaltung des Grundkonsens in der Gesellschaft zu tun. Das war der Bereich der politisch-moralischen Auseinandersetzung, der mir auch ganz wichtig war.“
Ab 1978 bis 1981 Beauftragter des Landes Rheinland-Pfalz beim Bund, war Schleyer bis 1988 Chef der Staatskanzlei Rheinland-Pfalz. Von 1989 bis 2009 lenkte er 20 Jahre als Generalsekretär des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks maßgeblich die Geschicke der „Wirtschaftsmacht von nebenan.“ Im Exklusiv-Interview mit dem „Deutschen Handwerksblatt“ und der Pressestelle der Handwerkskammer Koblenz geht er auf diese Zeit ein, beschreibt aber auch mit klaren Worten das Geschehen im Umfeld des RAF-Terrors und zieht Schlussfolgerungen aus den Ereignissen, die durchaus das heutige Zeitgeschehen tangieren.
Herr Schleyer, Sie stehen kurz vor Ihrem 73. Geburtstag, wir können aber in Ihnen keinen Ruheständler sehen…
Die Zahl der Aktivitäten hat eher noch zugenommen. Aber so intensiv wie als ZDH-Generalsekretär ist der Arbeitstag heute nicht mehr. Doch ich weiß heute freie Plätze im Terminkalender zu schätzen – und zu nutzen.
Was erwarten Sie als erfahrener Beobachter von der künftigen Bundesregierung besonders mit Blick auf Handwerk und Mittelstand?
Unabhängig von der farblichen Konstellation liegen drei Themen auf der Hand: Wir müssen mehr in Bildung investieren, nicht nur Geld. Das ist eine Schlüsselfrage für unser Land. Gerade auch die Menschen, die zu uns gekommen sind, müssen wir integrieren und ausbilden - auch mit Blick auf den inneren Frieden. Für das Handwerk ist ein ganzheitlicher familien- und bildungspolitischer Ansatz mit Blick auf die Ausbildungslücke besonders wichtig.
Und das zweite Thema…
…ist Digitalisierung und Infrastruktur. Die öffentliche Verwaltung darf Bürgern und Wirtschaft nicht immer wieder hohe Anforderungen abverlangen, ohne selbst entsprechend aufgestellt zu sein. Eine schnelle und effiziente Verwaltung ist auch ein gewichtiger Standortvorteil. Es war sicherlich richtig, die ausufernden Staatsschulden in den letzten Jahren zurückzuführen. Aber wir haben in Zeiten voller Kassen zu wenig für die Infrastruktur getan. Im Bereich der IT, von Straßen, Schulen und anderen öffentlichen Infrastruktureinrichtungen muss mehr passieren.
Dann bleibt noch Thema drei…
Der Bürokratieabbau. Wir haben im Normenkontrollrat Instrumente geschaffen, gegen massive Widerstände, aber auch mit Hilfe der Kanzlerin und des Vizekanzlers, zu effizienteren und kostengünstigeren Strukturen zu kommen. Jedes Gesetz etwa wird heute nach drei bis fünf Jahren auf Kosten und Zielerreichung hin überprüft. Kosten der Wirtschaft müssen an anderer Stelle durch die „one in-one out“ Regelung ausgeglichen werden.
Konnten Sie mit Ihrer inzwischen sechsjährigen Arbeit in diesem Gremium dem Mittelstand helfen?
Die Belastung durch Informationspflichten der Wirtschaft wurde um netto 13 Milliarden Euro reduziert. Das ist doch ein Wort. Und jedes Gesetz muss durch den sogenannten KMU-Test.
Blicken wir zurück: Was war Ihre eindrucksvollste Begegnung als ZDH-Generalsekretär - und warum? Was genau ist da passiert?
Das war Zwickau am 21. Juni 1990, die Wiedervereinigung von Handwerk in Ost und West. Für mich war es besonders bewegend, in einem riesigen Saal mit Handwerkern aus ganz Deutschland am Schluss das Lied der Deutschen zu singen. Das war ein großartiger Moment, wo wir alle überzeugt waren, wir schaffen das - gemeinsam.
Die Industrie hat die neuen Bundesländer damals als Absatzmöglichkeiten gesehen. Im Handwerk war das anders. Hier gab es eine starke Solidarität, Hilfestellung und Unterstützung zwischen den Betrieben und den Handwerksmeistern aus Ost- und West. Das waren keine Wettbewerber, sondern Gemeinschaften, die etwas bewegen wollten. Das galt auch für die Kammern in Ost und West.
Im Kuratorium der Deutschen Stiftung Denkmalschutz machen Sie sich für den Erhalt alter Gebäude stark - einer von ganz vielen Bereichen in unserer Gesellschaft, in dem ohne das Handwerk nichts geht…
Genau. Natürlich sind diese Bauten auch Teil unserer Geschichte und wenn wir nicht wissen, was wir alles geleistet und geschafft haben und uns dazu auch nicht bekennen, wie soll dann das Fundament einer Zukunft ausschauen? Wollen wir uns nur noch in virtuellen Welten bewegen?
Der „Deutsche Herbst“ jährt sich im Oktober zum 40. Mal. Ihr Vater wurde 1977 von der RAF entführt und brutal ermordet, die Lufthansa-Maschine „Landshut“ entführt. Was halten Sie von der der geplanten Ausstellung des Flugzeugs?
Es ist ein Teil deutscher Geschichte, eine Zäsur. Mein Bruder war bei der Rückführung des Flugzeugs dabei und hat sehr aufgewühlt darüber berichtet. Nun muss ein vernünftiges Konzept her, denn es geht ja nicht um eine technische Ausstellung, sondern vor allem um eine historische Aufarbeitung. Wie kam es dazu? Wie war das? Welche Gefühle, welche Verletzungen hat es damals gegeben? Natürlich wirft das auch die Frage auf, welche Konsequenzen sich daraus ergeben haben.
Welche sehen Sie?
Die gesellschaftspolitische Diskussion nach 1968 hat uns sicherlich vorangebracht. Damals gab es aber auch zu viele Intellektuelle die - um auf bestimmte gesellschaftliche Defizite hinzuweisen - oft ein überzogenes und damit verzerrtes Bild der Realität der Bundesrepublik gezeichnet haben. Das hat bei einigen jungen Leuten den Eindruck erweckt, notwendige Veränderungen könnten nur durch Gewalt erreicht werden. Heute muss vor allem klar sein: Gewalt darf kein Mittel in der politischen Auseinandersetzung sein.
Das heißt aber auch, dass die Sorgen vieler Bürger stärker in den Mittelpunkt politischer Entscheidungen gestellt werden müssen. Mitunter hat man den Eindruck, dass das Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare oder die Aufstellung von Transgendertoiletten einen höheren Stellenwert haben, als die Zukunft der Arbeitsplätze in einer digitalisierten Welt, die innere Sicherheit oder die Lösung der Flüchtlingsproblematik. Die Menschen müssen mitgenommen werden, auch in ihrer Identität. Wer aber zur Gewalt neigt, muss in der Gesellschaft isoliert werden. Das ist eine Erfahrung, die man aus 1977 bis heute weiter tragen kann.
Hat Ihnen das Handwerk auch persönlich Halt und einen Orientierungspunkt gegeben?
Ich habe im Handwerk so viele großartige Typen erlebt, knorrige und selbstbewusste und auch manche, die sehr rigoros in ihren Ansichten waren. Aber: Es waren gute Typen, viele gute Typen! Da gibt es so viele, die nach vorne schauen, das Risiko nicht scheuen, was wagen, die sich engagieren in Ehrenamt, Vereinen oder in der Politik. Das hat mir immer gefallen. Und auch als Unternehmer zu sagen: Ich hab schon den Vater ausgebildet und jetzt kommt der Sohn – vielleicht nicht mit den allerbesten Schulnoten – aber ich kenne die Familie, ich mach´ das. Das sind die Strukturen, die das Handwerk groß gemacht haben und die unverzichtbar sind – und die ich bis zum heutigen Tag sehr schätze!
Sie haben im Frühjahr eine Reihe von Interviews zur Ermordung Ihres Vaters vor 40 Jahren gegeben. Wie haben Sie den 18. Oktober 1977 persönlich in Erinnerung?
Die Tötung meines Vaters war ja der Schlusspunkt dessen, was man als „Deutschen Herbst“ bezeichnet. Es war die Eskalation, die man befürchtet hatte von politischer Seite, die auch die Bevölkerung zutiefst verunsichert hat. Das hat sicherlich auch zur Entscheidung geführt, den Forderungen der Terroristen nicht nachzugeben, was die Familie und Freunde – natürlich – so nicht akzeptiert haben.
Dabei war ich durchaus in einem Zwiespalt. Mein Vater wusste, dass er auf der Anschlagsliste ganz oben stand. Im Falle seiner Entführung, sagte er mir, sei er bereit, jede Entscheidung des Staates zu akzeptieren. Er – und wir als Familie mit ihm – war allerdings nicht bereit, mehr als sechs Wochen unter diesen unmenschlichen und menschenunwürdigen Zuständen zu leiden. Als es mir nach vielen Gesprächen mit verantwortlichen Politikern, darunter mit dem Bundeskanzler, mit Ministerpräsidenten und Oppositionspolitikern, endgültig klar geworden war, dass es keinen Austausch geben würde, habe ich deshalb das Bundesverfassungsgericht angerufen. Das Gericht hat gegen uns entschieden und in einem umstrittenen Urteil die Staatsräson über den Schutz konkret gefährdeten Lebens gestellt. Das hat dem Morden der RAF allerdings keinen Einhalt geboten.
Parallel dazu wurde die Landshut entführt, als deren Passagiere dann befreit worden waren, war uns klar, dass damit das Todesurteil für meinen Vater gesprochen war. Wir hatten sehr gehofft, dass es mit der Entführung der Landshut neue Überlegungen geben würde, denn nun ging es ja nicht nur um ein Menschenleben, sondern um 80 und mehr Menschen, die gefährdet waren. Diese Hoffnung hat sich dann nicht erfüllt.
Ein Jahr später, 1978, sind sie politisch sehr aktiv geworden. War das ihre ganz persönliche Antwort auf die Ereignisse 1977?
Es gibt zwei Antworten. Ich war nach dem Studium ein Jahr in den USA und habe in der Anwaltskanzlei von Richard Nixon gearbeitet, als er gerade zum Präsidenten gewählt worden war. Dort habe ich mit großem Interesse beobachtet, wie meine Kollegen aus der Kanzlei heraus sich für eine bestimmte Zeit in einer politischen Administration betätigt haben, zurückgekommen sind, um dann möglicherweise in internationalen Einrichtungen oder Unternehmen tätig zu werden. Diese Flexibilität, die auch immer ein Stück persönliche Unabhängigkeit war, hat mich fasziniert.
Die Ereignisse von 1977 haben mir dann die Chance auf ein politisches Amt geboten – angesprochen wurde ich von Bernhard Vogel. Das andere war der Wunsch, einen Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem politisch motivierten Terror zu leisten. Dazu gehörte die Diskussion mit Meinungsbildnern und RAF-Sympathisanten, aber auch etwas für die Aufrechterhaltung des Grundkonsens in der Gesellschaft zu tun. Das war der Bereich der politisch-moralischen Auseinandersetzung, der mir auch ganz wichtig war.
Wenige Tage vor dem traurigen historischen Datum 18. Oktober ist das Thema RAF-Terror allgegenwärtig. Wünschen Sie sich manchmal einen Abschluss – auch in der Berichterstattung? Oder schätzen Sie es, dass es ein öffentliches Erinnern gibt?
Ich glaube – und da kommt es gar nicht auf meine Meinung an –, dass diese Diskussionen einfach zur Zeitgeschichte gehören. Wichtig ist, daraus Schlüsse zu ziehen, etwas daraus zu lernen. Ich merke auch, dass es nach wie vor viele Menschen berührt. In den letzten 40 Jahren habe ich viele Briefe bekommen von ganz unterschiedlichen Menschen, die ich gar nicht kenne: Ich will Ihnen einfach mal schreiben und meine Sympathie ausdrücken, heißt es da.
Darunter sind viele Menschen, die auch über ihre damaligen Ängste berichten und den Wunsch äußern, dass so etwas nie mehr passiert. Es war also ganz offensichtlich eine Zäsur in der Geschichte unseres Landes. Was mich aber sehr verletzt und das geht in Richtung Medien: Wenn man immer wieder in der Berichterstattung über diesen Deutschen Herbst das Bild meines Vaters als Gefangenen der RAF zeigt. Das ist für Familienangehörige überhaupt nicht erträglich. Das zeigt meinen Vater in einem unmenschlichen, unwürdigen Zustand, was ja bewusst von den RAF-Terroristen so gewollt war. Und mit ihm, der ja als Repräsentant des Systems ausgewählt war, hat man gleichermaßen den Staat entwürdigt.
Ist die Bundesrepublik heute gegen inneren Terror insgesamt besser aufgestellt?
Ja, wobei wir mit unterschiedlichen Arten des Terrors konfrontiert sind. Wir haben den islamistischen Terror, den wir nicht durch interne Diskussionen oder bessere Integration von Bevölkerungsgruppen bekämpfen können, sondern nur auf internationaler Ebene. Doch bei der Gewalt, die wir nach wie vor von der linken wie von der rechten Seite erleben, da meine ich, sind wir besser aufgestellt. Ich glaube, das hat auch etwas mit den Erfahrungen des Jahres 1977 zu tun.
Deshalb meine ich, dass bei aller Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen, kaum einer mehr der Auffassung ist, dass die Staatsform, in der wir leben, die gesellschaftlichen Strukturen, weg und durch andere ersetzt werden müssen. Das macht sich eher an einzelnen Themen fest. Da muss man zuhören und auch reagieren. Man muss den Menschen das Gefühl geben, dass sie da auch mitgenommen werden, dass man sie ernst nimmt, dass man etwas tut und nicht nur darüber spricht.
Das Gespräch führten Michael Block aus der Handwerksblatt-Chefredaktion und Jörg Diester, Leiter der Pressestelle der Handwerkskammer Koblenz.
16.10.2017